… oder: "Wenn die Blätter fallen – vergiss nicht, dass Du Wurzeln hast!"
Wenn wir derzeit in unsere Natur hinausblicken, kann man nicht nur feststellen, dass wir sowohl den ein oder anderen goldenen Oktober-Tag genießen konnten und auch einige verregnete Tage hatten, sondern dass die Bäume langsam ihre bislang so wunderschön-bunten Blätter loslassen und beginnen, kahl zu werden. Für Laubbäume ist dieser Prozess zwingend notwendig, weil sie so ihr Überleben im Winter sichern. Denn wenn diese Bäume ihre Blätter festhalten würden, könnten sie erfrieren. Sie sind also drauf angewiesen, dass sie im Herbst als Vorbereitung auf die kalte Jahreszeit ihre Säfte und Lebenskraft aus den Blättern ziehen (dadurch verfärben sie sich ja auch und fallen dann schließlich ab) und diese in ihre Mitte und ihre Wurzeln zurückfließen lassen. Dort findet ein lebenserhaltender Nährstoff-Austausch mit dem im Winter wärmeren Boden statt, dort im Geheimen, im Unsichtbaren, im Inneren, im Dunkeln, dort wird alles gespeichert, ist alles nach wie vor vorhanden (auch wenn wir die Äste von außen als noch so kahl wahrnehmen) und wartet. Ruhig und beständig. Denn diverseste Lebensarten in der Natur „wissen“ ganz intuitiv, wann der richtige Zeitpunkt für welches Lebensstadium ist. Denn alles in der Natur ist zyklisch, ein Kommen und Gehen, ein Aufblühen und Zurückziehen. Und damit ein Baum immer wieder erneut seine Triebe wachsen, seine Blüten entstehen lassen, seine Früchte reifen lassen kann, gehört es eben zu seiner Rhythmik, zeitweise seine Blätter fallen zu lassen, sich nach innen zu besinnen, zu ruhen und seine Kräfte zurück zu ziehen und zurück zu halten. Denn er braucht diese tagtäglich zum Überleben, zum Leben überhaupt und zum späteren erneuten Wachstum. Alles zu seiner Zeit, alles in Anpassung an die jeweilige Jahreszeit und an die entsprechenden Umgebungsbedingungen.
Und wie ist so ein Baum überhaupt entstanden? Hatte er zuerst Blätter oder zuerst Wurzeln? Genau, ein kleiner Samen, eine kleine Frucht keimte einst in der Erde, bildete Wurzeln, verankerte sich in seiner unmittelbaren Umgebung, um gut wachsen zu können. Erst, wenn ein Baum Wurzeln schlägt, kann er mit seiner Entwicklung fortfahren, kann zu wachsen beginnen, um später in die Blüte zu gehen, letztendlich Früchte zu tragen und seiner wie auch immer gearteten Bestimmung zu folgen. Nur dadurch, dass es ihm gelungen ist, festen Stand zu finden - manchmal unter den widrigsten Bedingungen - konnte er zu dem werden, den wir irgendwann von außen betrachten können.
Und wieso erzähle ich Dir diese Geschichte überhaupt? Weil ich Dir heute ein ganz bestimmtes inneres Bild für die Zeit, die in den kommenden Wochen auf uns zukommt, mitgeben möchte!
Nun, vielleicht kannst Du es Dir schon denken. In unserem eigenen Leben ist es doch eigentlich ganz ähnlich. Vielleicht hast Du im Moment das Gefühl, dass Dir gerade eine Menge genommen wird. So wie der Baum, der seine Blätter verliert: waren sie doch wunderschön in Form und Farbe, haben Schatten gespendet oder den Vögeln ein Platz zum Nisten gegeben. Sommer halt. Und jetzt verändern sich die Umgebungsbedingungen und wir sollen loslassen. Zeitweise jedenfalls. Und durch diesen Prozess der Veränderung entsteht etwas: Sowas wie Abschied. Sehnsucht. Trauer. Enttäuschung. Manchmal auch Wut oder Ohnmacht. Und manchmal auch ein leises Lächeln freudvoller Erinnerung. Beim einen mehr, bei der anderen weniger, die Mischung ist so einzigartig wie wir Menschen es nunmal sind. Und jetzt? Irgendwie wird das in der kommenden Zeit mit dem "dran festhalten" etwas schwierig, das spürst Du. Aber nur tatenlos dem Verlust zusehen? Nein, das ist auch keine Lösung.
Der erste Schritt in ein entspannteres Gefühls-Mamagement ;-) ist, dass Du ohne den Drang zu haben, sofort irgendetwas "tun" oder "ändern" zu müssen, erst einmal wahrnimmst, was gerade in Dir passiert. Und am besten atmest Du dabei ein paarmal ganz bewusst tief ein und wieder aus. Einfach nur wahrnehmen und anerkennen, dass sich da gerade "etwas" in Dir tut. Dass Dich die momentane Situation bewegt. Das ist eine super-schwierige Übung, weil wir es in der heutigen Zeit gewohnt sind, alles und jeden zu kommentieren und zu bewerten. Aber nimm einfach nur mal wahr, wie es Dir gerade geht, welche Gefühle - manchmal diese, manchmal jene, manchmal dezent und manchmal in großen Wellen - in den letzten Tagen so in Dir hochsteigen und sich immer wieder auch je nach Deiner Tagesform verändern. Versuche es als Realität anzunehmen, dass immer Gefühle in uns aufkommen, sobald wir eine Veränderung verspüren. Das hat die Natur so eingerichtet und dient uns als "Marker", dass gerade etwas passiert. Schließlich heißen Gefühle auch Emotionen, das kommt vom lateinischen "movere", also "in Bewegung kommen", sich von etwas weg/ zu etwas hin bewegen.
Und ich möchte Dich jetzt dazu einladen, Deine Aufmerksamkeit so langsam von den fallenden Blättern, dem Verlust, zu lösen und hin zu dem mindestens ebenso wichtigen Teil des Baumes zu bewegen, nämlich zu den Wurzeln, den Ressourcen und der Lebensenergie. Denn die Wurzeln, die bleiben. Egal welche Umgebungsreize. Egal welche Jahreszeit. Sie geben den Halt und speichern alles, was der Baum braucht, um weiterleben zu können. Um einen manchmal kurzen, manchmal längeren Winter zu überstehen. Um im Frühjahr diese Lebensenergie wieder in die Äste fließen zu lassen, damit diese genug Kraft entwickeln, neue Triebe spriessen zu lassen. Es sind die Wurzeln, die den Baum mit Nährstoffen versorgen. Es sind die Wurzeln, die verankern. Es sind die Wurzeln, die den Baum von Anfang an gute Dienste leisten. Es sind die Wurzeln, die zuerst entstanden sind, damit der Baum sich mit allem füllen kann, was er für sein Wachstum braucht. Darauf solltest Du Dich in dieser kahlen Zeit konzentrieren. Auf Deine Wurzeln. Auf das, was Dich bislang getragen hat, was Dir Halt und Stabilität von Anfang an gegeben hat. Und immer noch gibt. Sag nicht, das ist nicht da. Vielleicht spürst Du das nicht immer und vielleicht sehen wir das nicht immer sofort auf den ersten Blick (schließlich steckt der Großteil der Wurzeln ja auch in der Erde und ist somit von außen nicht sichtbar). Aber alles ist da. Alles ist in Dir, was Du für Dein Leben brauchst. Vielleicht denkst Du gerade darüber nach, ob das stimmen könnte, weil wir ja so oft das Gefühl haben, dass es uns an diesem oder jenem fehlt. Aber zeig mir einen einzigen lebenden Baum, der keine Wurzeln hat. Ohne Blätter, ja, das geht. Nadelbäume brauchen zum Beispiel keine. Aber Wurzeln brauchen sie sehr wohl zum leben. Laubbäume sehen natürlich schöner aus, wenn sie Blätter tragen, von Photosynthese und co ganz zu schweigen - aber es hat ja auch seinen Grund, wenn sie zeitweise nicht in der Blüte stehen. Das ist meist die Zeit der Regeneration, der Erholung, der Vorbereitung auf Kommendes.
Geh dieses Wochenende doch einfach mal raus in die Natur (ist eh gesünder, also die ganze Zeit zu Hause zu sein). Pack Deinen Partner, Deine Kinder, Deine Familie, Deinen Hund oder wen auch immer ein oder Du kannst auch ganz alleine gehen. Und dann halte mal bewusst Ausschau nach den verschiedenen Bäumen, schau sie Dir in Ruhe immer mal wieder an. Und nimm besonders die Wurzeln in Augenschein. Wie jeder Baum ein ganz eigenes, tragendes Wurzelwerk hat. Keines ist vergleichbar, doch die Funktion ist bei allen die selbe. Und dann überleg doch einmal, wo Deine Wurzeln liegen, vielleicht auch, was Du aus der Kindheit an schönen, prägenden Erinnerungen mitgenommen hast, welche Werte Du mitgenommen hast, die bewahrenswert und weitergebenswert sind, was und wer Dir Halt gab und vielleicht immer noch gibt. Wenn Du willst, kannst Du auf Deiner Gedankenreise auch noch weiter zurück zu Deinen Vorfahren gehen: wofür bist Du ihnen dankbar? Wer war aus Deiner Erinnerung heraus jemand, an dem Du Dich oder andere sich gut orientieren konnten? Gerade jetzt zu Allerheiligen am Wochenende gedenken wir ja der Verstorbenen und unserer Vorfahren und vielleicht besuchst Du auch deren Gräber. Wenn Du diesen Brauchtum pflegen solltest, kannst Du auch dort den Gedanken der liebevollen Erinnerung fließen lassen und fühlst für diese eine, ganz bestimmte Wurzel Deines Lebensbaums, Dankbarkeit.
Und dann richte Deine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt und auch auf die Zukunft und erinnere Dich daran, dass wir unseren Kindern ja auch immer beides mitgeben wollen: Wurzeln und Flügel! Von Blättern war hier übrigens nicht die Rede ;-)... aber gemeinsam mit Deinen Kindern könntest Du während Eures Spaziergangs durch sie hindurchrascheln oder rätseln von welcher Baumart sie stammen oder sie durch die Luft wirbeln lassen oder daraus nach dem Spaziergang was schönes basteln oder...
Herzliche Grüße,
Deine Corinna
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Igel23 (Freitag, 30 Oktober 2020 09:47)
Einfach ein toller Text! Wunderschön geschrieben!!
Silvia (Freitag, 30 Oktober 2020 14:29)
� Ein sehr schöner Text! �
Christine (31.Oktober) (Samstag, 31 Oktober 2020 16:45)
Sehr gute Gedanken, sorgfältig und berührend festgehalten, mutmachend, gerade in dieser nicht ganz einfachen Zeit. Danke